Lieferketten im Spannungsfeld von Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit

Seit Jahrzehnten haben sich die Lieferketten gerade in der Elektro- und Digitalindustrie auch im Mittelstand immer weiter internationalisiert. Die Hersteller elektrotechnischer Investitionsgüter folgten dabei zunächst der Globalisierung ihrer großer Kunden, um schließlich selbst zum „Global Player“ zu werden. Die Produktion komplexer Elektronik braucht heute Zulieferungen von Halbleitern und elektronischen Bauelementen aus der ganzen Welt.

Elektronische Geräte, deren Zulieferungen ausschließlich in europäischen Ländern hergestellt werden, sind die absolute Ausnahme. Dabei spielt der eigentliche Herstellungsort, in der das elektronische Gerät fertiggestellt wird, für die Frage der Komplexität der Lieferkette keine Rolle. Eine Verlagerung des Herstellung-sortes von z. B. Asien nach Europa zieht die vielseitigen Lieferketten wie Gummibänder hinter sich her. Die Komplexität der Lieferketten wird in vielen Fällen weiter steigen. Das von Politik und öffentlichen Medien vielfach beschworene „Reshoring“, das Zurückholen von Produktion nach Deutschland oder Europa, ist für die global agierenden Unternehmen der Elektronik- und Digitalindustrie keine wirksame Strategie, um Zulieferketten zu verkürzen und dadurch robuster zu gestalten! 

Die Globalisierung dieser Industrien ist aus ganz unterschiedlichen Gründen vorangeschritten. Vor allem die Nähe zu wichtigen Absatz- und Zuliefermärkten in Asien und Amerika spielt dabei die wichtigste Rolle. Aber auch der Ausgleich von Währungsrisiken, der Zugang zu wettbewerbsfähigen Arbeitsmärkten, das Erreichen von Talenten und Institutionen im Bereich Forschung und Entwicklung waren immer Globalisierungstreiber. Als Folge ist die Komplexität der Lieferketten gestiegen und die Corona-Epidemie hat die Verwundbarkeit dieser Lieferketten schonungslos offengelegt. Die Corona-Krise zeigt aber auch, dass der Rückgang des Auftragsaufkommens nach wenigen Wochen das dominante Problem wurde und die Reaktion der Unternehmen auf den Rückgang ihrer Geschäftschancen und die unerwartet schnelle Erholung der Märkte schon Ende 2020 erst zur eigentlichen Überforderung der Lieferketten geführt haben.

Die aus dieser Erfahrung einzigen, wirksamen Methoden, Lieferketten und die eigene Produktion aufrechtzuerhalten sind unbequem und alles andere als neu. Zum einen müssen kritische Bauelemente – gerade komplexe Halbleiter-Chips – bereits im Produktdesign mit Alternativen hinterlegt werden. Das ist mehr und viel aufwendiger als eine einfache „Second Source“-Strategie. Halbleiter-Chips sind in den allermeisten Fällen proprietäre Designs mit umfangreichem Schutz der „Intellectual Property“ und deshalb nicht 1:1 ersetzbar. Die „Second-Source“-Strategie muss sich also auf ein zweites Schaltungsdesign mit anderen Komponenten aus anderen Lieferquellen beziehen. Damit verteuern und verlängern sich die Entwicklungsaufwendungen erheblich.

Die zweite Strategie zur Stabilisierung der Lieferketten sind große Reichweiten bei eigenen Beständen, sowohl bei Roh- als auch bei Fertigwaren.

Beide Strategien sind für Elektronikhersteller eigentlich „Binsenweisheiten“ und trotzdem war die Industrie be-müht, in einer Risikoabwägung redundante Designs zu Gunsten einer schnelleren „Time-to-Market“ immer weiter zurückzufahren und Bestände an Roh- und Fertigwaren weiter zu reduzieren, vor allem um weniger Kapital zu binden. Diese Risikoabschätzung muss aufgrund der jetzt gemachten Erfahrung überdacht und neu austariert werden.

Die größte Gefahr, die aus der jetzt gemachten Erfahrung resultiert, wäre allerdings ein Rückbau der etablierten globalen Investitionen gerade und vor allem für den Mittelstand in der Elektro- und Digitalindustrie. De-Globalisierung oder „De-Coupling“ wäre ein Schritt zurück in abgeschottete Handelsräume oder gar Nationalstaaten mit den dazu notwendigen protektionistischen Handelsschranken. Dieses Szenario hätte nicht nur das Potential Wohlstand in vielen, wenn nicht allen Weltregionen zu vernichten. Auch die heute schwelenden Konflikte an den Grenzen der Handelsräume werden in einer weitgehend entkoppelten Welt offen ausbrechen. Eine de-globalisierte Welt wird im Vergleich zu heute aller Voraussicht nach ärmer und kriegerischer werden.

Das eigentliche Problem global aufgestellter Mittelständler ist also nicht die Komplexität und Vulnerabilität der internationalen Lieferketten, sondern die Gefahr, dass der offene multi-laterale Welthandel immer weiter eingeschränkt wird und schlussendlich eine politisch und wirtschaftlich vollständige Entkopplung der Handelsräume eine völlige Neuaufstellung der Wertschöpfung erforderlich machen würde.