Modularität in der Produktionstechnik: Wie granular darf es sein?
Das Prinzip der Modularität lässt sich am besten an den Lego-Bausteinen erklären: Aus wenigen Grundbausteinen und definierten Verbindungselementen entstehen zahllose Objekte mit unterschiedlichen Funktionen. Die Herangehensweise hat sich in der Industrie auch für Produkte mit höherem Komplexitäts- und Variabilitätsgrad durchgesetzt. In der Steuerungs- und Antriebstechnik können Systeme wie SPS, IPC, HMI und Antriebskomponenten aus einzelnen „Scheiben“ oder mehreren Remote-I/O-Blöcken genau passend für die jeweilige Maschine zusammengestellt werden. Der Vorteil: Im weiteren Einsatz lassen sie sich ohne großen Aufwand erweitern oder abändern.
Es gibt im Maschinenbau derzeit keine Alternative zur Modularisierung, denn die entsprechenden Konzepte zielen auf ein Portfolio mit geringerer Varianz und Komplexität sowie ein insgesamt niedrigeres Kostenniveau, ohne die Breite und Individualität des Angebots zu verringern (1). Es erleichtert das Verständnis dieser Aussage, wenn man sich die typischen Anforderungen an Fertigungssysteme vergegenwärtigt:
Konzepte wie „Individuelle Produkte“ und „Industrie 4.0“ benötigen hoch variable Produktionssysteme, die es ermöglichen, eine größere Bandbreite von Produkten auch in kleineren Stückzahlen zu fertigen. Dazu müssen die Anlagen skalierbar sein und Optionen für die nachträgliche Erweiterung bieten (2).
Damit der Maschinenbau seine Kunden erreicht, genügt es nicht, gute Produkte zu entwickeln und zu verkaufen – und auf Service-/Wartungsaufträge zu warten. Denn bei der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung von Investitionen spielen die Lebenszykluskosten (LCC = Life Cycle Costs) eine immer größere Rolle. Mithilfe der LCC lassen sich neue Businesskonzepte inkl. Wartungs-, Service- und Retrofit-Leistungen sehr transparent darstellen und verkaufen. Der Maschinenbauer kann den Anwender leichter von den Vorteilen des erweiterten Angebots rund um den Lebenszyklus der Anlage überzeugen (3). Die wachsende Nachfrage nach Subskriptionsmodellen wie „Pay per Use“, „Pay per Month“ und „Pay per Unit“ bestätigt den Trend. Schließlich sind nutzen- und service-orientierten Modelle auch wirtschaftlich attraktiv: 2018 lag die Marge im Neumaschinen-Verkauf im Schnitt bei 5,4%, beim Service lag sie bei 40%.(4)
Gerade bei hochpreisigen Investitionsgütern ist es oft wirtschaftlicher, bestehende Maschinen zu erweitern und Baugruppen zu erneuern, als sie komplett neu anzuschaffen.
Zumindest Teile der Kundschaft erwarten, dass Maschinen-Module bzw. Sub-Systeme unterschiedlicher Anbieter sich ohne Sonderaufwand in bestehende Anlagen integrieren lassen.
Voraussetzungen für die Modularisierung
Doch ehe sich OEMs dazu entschließen, die Modularisierung ihrer Produkte und Fertigung voranzutreiben, sollten sie folgende Fragen positiv beantworten:
Kann der geschätzte Gesamtaufwand für eine neue durchgängig modulare Produktgruppe im branchenüblichen Zeitrahmen und bei Worstcase-Annahmen für die weitere Marktentwicklung plausibel eingespielt werden?
Bewerten alle beteiligten Abteilungen die Herausforderungen durch die geplante Neu-Aufteilung der Maschine oder Anlage als machbar?
Sind alle betroffenen Betriebsteile bereit, ihre Arbeitsweise am neuen modularen Konzept auszurichten?
Zudem gilt es zu klären, wie weit man eine Maschine oder Anlage in Module aufteilen soll. Die Genialität von LEGO liegt nicht in den Bausteinen selbst, sondern in den Verbindungen zwischen ihnen. Diese bestimmen die mögliche Granularität der Aufteilung, sind aber auch der beschränkende Faktor für die Verbindung von Bauteilen. Ähnlich ist das bei den Schnittstellen in einer Maschine: Sie sorgen für ein stimmiges „Gesamtgefüge“, indem Sie das einwandfreie zweckmäßige Funktionieren der Maschinenteile und Produktionslinien garantieren. Wesentlich für eine erfolgreiche Modularisierung ist deshalb die richtige Abgrenzung der Bausteine des „Gesamtsystems“ voneinander.
HARTINGs Handlungsempfehlungen
Gliedern Sie zuerst das Ausgangs-System nach Funktionen: in Key-Funktionen, die Ihre Kernkompetenz widerspiegeln, Grundfunktionen (z. B. Träger- oder Transportsysteme), die sich über das gesamte System erstrecken, sowie Add-On- oder Hilfs-Funktionen.
Fassen Sie nun diese Funktionen zu Modulen zusammen – aber nur so granular wie nötig! Berücksichtigen Sie dabei alle Aspekte der möglichen Optimierung und der notwendigen Ausrüstungsvarianz. Beziehen Sie möglichst viele Stufen der Leistungserbringung entlang des Maschinen-Lebenszyklus mit ein.
Beurteilen Sie für alle nicht weiter „teilbaren“ Elemente der Maschine (Sensoren, Aktoren, HMI, Antriebe ...), die elektrische/elektronische Leistungs-, Signal- oder Daten-Anbindung benötigen, die Bedeutung für das jeweils neu definierte Maschinenmodul.
Ordnen Sie diese Elemente einem passenden Maschinen-Layer zu.
Ordnen Sie alle erforderlichen Interfaces zur Anbindung von Einzelelementen den jeweiligen Maschinenmodulen zu.
Ergebnis ist eine Matrix, die alle Module der künftigen Anlage aufführt: Die hierarchische Anordnung der Teile inkl. Schnittstellen und deren Modul-Relevanz sollte sichtbar sein. Aufgrund der Matrix können Sie die Machbarkeit, die technischen Risiken und die Konsequenzen für die Auslegung der Maschine bewerten. Die Transparenz steigt, wenn Sie die Bedeutung der Module für das Gesamtsystem gewichten. Aus der Matrix lassen sich so nicht nur die beteiligten Fraktionen, sondern auch die weiteren Schritte in der Entwicklung der Module und Prozesse ablesen.
Auch die Frage nach der richtigen Steuerung der Maschine oder Anlage lässt sich nun besser beantworten. HARTINGs Beobachtungen hierzu besagen, dass…
Systeme mit hoher Variabilität der Ausrüstung in den Key-Funktionen bei großer räumlicher Ausdehnung eher durchgängig mit dezentralen I/O-Systemen ausgestattet werden;
bei kleineren hoch-variablen Systemen kombinierte Strukturen gewählt werden. Die Steuerung der Key- und Grund-Funktionen wird dann zentral angelegt, Zusatz-Funktionen je nach Komplexität werden entweder zentral (einfach) oder dezentral (komplexe Schnittstellen) gesteuert;
bei kleineren und/oder einfachen Systemen mit geringer Variabilität eine reine zentrale Steuerung einfacher und wirtschaftlicher ist.
Die Relevanz von Schnittstellen
Die nahezu absolute Freiheit, die sich mit modularen Produktionssystemen verbindet, wird entscheidend durch die Schnittstellen geprägt. Die Übertragungs-Kapazitäten und Handlungs-Optionen, die diese Komponente bietet, bestimmen mit, wie sich die Modularität der Anlage ausgestaltet. Deshalb sollten die Schnittstellen …
sich immer kostenoptimiert für die jeweiligen Anforderungen (elektrische, EMV-Eigenschaften) der Übertragungsstrecke auslegen lassen;
sowohl in den technischen Parametern als auch hinsichtlich Größe und Anzahl an jedem Maschinen-Modul stufenweise skalierbar sein;
unterschiedliche Anforderungen hinsichtlich Material, Kontaktierung, Montage- und Schutzart erfüllen sowie alternative Übertragungsmedien wie Lichtwellenleiter und Druckluft integrieren können.
Mehr Effizienz durch Modularisierung
Eine konsequente Modularisierung auf Grundlage der gezielten Optimierung aller Kosten und Leistungserbringungs-Prozesse im Lebenszyklus (LCC-Modell) ermöglicht die Fertigung von Maschinen nach dem Baukastenprinzip – mit erheblich geringerem Aufwand. Zugleich erhöht sich der Spielraum für kundenspezifische Konfigurationen. Auch die Anwender profitieren von der Modularisierung, denn sie erhalten eine kosten- und anforderungsoptimierte und zugleich transparent ausgelegte Maschine. Ein entscheidender Faktor für eine gelingende Modularisierung sind die Schnittstellen.
Jakob Dueck
Position: Industry Segment Manager Machinery
- Abteilung: Industry Segment Management
- Firma: HARTING Technology Group