"Wir sind mittendrin"
Arvid Gillert
Position: Senior Manager Energietechnik
- Firma: ZVEI e. V.
Das deutsche Stromnetz muss versorgungssicher und nachhaltig gestaltet werden. Wie das gelingen kann und was deutsche Unternehmen dabei zu bieten haben, erklärt Arvid Gillert, Senior Manager Energy Technology beim Verband der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI), im Gespräch.
Technologieoffenheit
tec.news: Sie sprechen beim ZVEI von der „Evolution des Netzes … durch die Entwicklung der Netztechnologien“ und fordern Technologieoffenheit. Was verstehen Sie hier konkret unter technologieoffen?
Arvid Gillert (AG): Die Netze stehen vor enormen Herausforderungen: Zum einen müssen immer mehr volatile Erzeuger eingebunden werden, zum anderen steigt durch Entwicklungen wie die Elektromobilität der Bedarf an Netzkapazitäten. Technologieoffenheit in diesem Zusammenhang bedeutet, dass die eingesetzten Technologien auf die konkreten Anforderungen abgestimmt sein müssen – ohne sich durch historisch gewachsene Vorgaben unnötig einzuschränken. Hier sind beispielsweise
die technischen Anschlussbedingungen der Netzbetreiber zu nennen, die häufig zu sehr auf individuelle Lösungen abzielen. Stattdessen sollten wir auf verfügbare und seriennahe Technologien setzen, um schneller skalieren zu können und die Netzdienlichkeit zu erhöhen.
Evolution statt Revolution
Sie sprechen deshalb bewusst nicht von einer Revolution, sondern einer Evolution mit vorhandenen Mitteln?
AG: Im Rahmen einer Studie haben wir Steckbriefe zu Technologien erstellt, die heute schon verfügbar sind, aber aus unserer Sicht noch nicht ausreichend genutzt werden. Ein gutes Beispiel ist die intelligente Ortsnetzstation. Beim Einsatz solcher Technologien gibt es noch erhebliches Potenzial – gerade im Hinblick auf die Digitalisierung der Netzkomponenten. Hier können wir mit den bestehenden Mitteln schon jetzt große Fortschritte erzielen, ohne auf revolutionäre Neuentwicklungen warten zu müssen.
Anreize und eine passende Regulatorik
Auch fordert der ZVEI Anreize und eine passende Regulatorik. Wie sehen Anreize aus? Und wo sind konkrete Stellschrauben in der Regulatorik?
AG: Der aktuelle regulatorische Rahmen ist noch stark auf die Strukturen der Vergangenheit ausgerichtet. Netzbetreiber hatten bisher wenig Anreize, in Themen wie die Digitalisierung ihrer Netze zu investieren – sie haben vor allem das umgesetzt, was durch die Regulierung gefördert wurde. Die Bundesnetzagentur setzt nun mit dem Fokus auf die sogenannte Energiewendekompetenz ein wichtiges Signal: Netzbetreiber sollen sich zukunftsfähiger aufstellen und nötige Schritte, wie einen vorausschauenden Netzausbau, frühzeitig angehen. Hier fehlten bislang die Anreize und die Netzbetreiber haben den Netzausbau nur in dem Maße vorangetrieben, wie unmittelbar notwendig. Angesichts der steigenden Anforderungen durch bspw. Elektromobilität und Wärmepumpen kann mit dem Netzausbau nicht gewartet werden, bis die Nachfrage da ist – er muss proaktiv erfolgen.
Stichwort ‚Klimaneutralitätsnetz‘
Vor diesem Hintergrund treibt der Fachverband Standardisierung und Entwicklung voran. Wo sehen Sie Deutschland bzw. die Industrie bei den Punkten Infrastrukturausbau, Einführung klimafreundlicher Technologien und Digitalisierung der Netzkomponenten?
AG: Deutschland steht nicht schlecht da – die Fortschritte der vergangenen Jahre sollte man auch mal hervorheben. Schaut man auf die Zahlen von 2024, wird beim Stromverbrauch ein Anteil von 52 Prozent durch erneuerbare Energien abgedeckt. Im Jahr 2005 waren es noch 10 Prozent. Auch die Infrastruktur ist insgesamt solide und bietet eine gute Grundlage. Diese gilt es jetzt weiter auszubauen und für die Zukunft fit zu machen. Digitale Lösungen spielen dabei eine Schlüsselrolle. Die im ZVEI
organisierten Hersteller haben hier bereits zahlreiche innovative Technologien im Portfolio. Jetzt geht es um die Skalierung, bei der Deutschland noch besser werden
muss. Wir brauchen in Deutschland also weiter den physischen Ausbau. Aber ohne den Einsatz digitaler Lösungen wird es nicht gelingen.
Deutschland steht nicht schlecht da. Die Fortschritte der vergangenen Jahre sollte man auch mal hervorheben.
Arvid Gillert
Senior Manager Energy Technology, ZVEI e. V.
Auftragsvolumen bis 2045
Mehr als 500.000 km Kabel plus rund 500.000 Transformatoren werden bis 2045 benötigt. Das wäre ein attraktives Auftragsvolumen für hiesige Firmen. Bieten sich ZVEI-Mitgliedsunternehmen nicht hier als Lieferanten förmlich an?
AG: Das ist de facto so. Besonders im ZVEI-Fachverband Energietechnik, der die relevanten Hersteller vertritt, spüren wir diese enorme Nachfrage. Das zeigt sich auch bei den Investitionen – sowohl in Personal als auch in den Ausbau von Produktionskapazitäten. Allerdings bleibt hier der kleine Wermutstropfen, dass diese Investitionen nicht immer in Deutschland und Europa stattfinden. Auch da stehen
wir im globalen Wettbewerb. Wo die Standortbedingungen
besser sind, wird am Ende investiert. Hier könnte die Politik gegensteuern – durch Bürokratieabbau und die Vereinfachung von Genehmigungsverfahren.
Probleme und Erfolgsgeschichten
Wo sehen Sie derzeit die Sektorenkopplung? Wo hakt es und was sind erfolgreiche Beispiele?
AG: Wir sind mittendrin, aber es gibt noch eine ganze Menge zu tun. Wir sehen Erfolge auf der Einspeiseseite und auch beim Netzausbau geht es voran. Wir haben den Eindruck, dass die Netzbetreiber ebenfalls die Notwendigkeit erkannt haben und aktiv werden. Die Verbraucher scheinen aber zum Teil auch durch die Politik verunsichert, was den Umstieg auf strombasierte Technologien angeht und beim Strompreis selbst. Um dieser Verunsicherung zu begegnen, sind eine konsequente Entlastung des Strompreises von allen Umlagen und der Anreiz zum netzdienlichen Verhalten über Preissignale wichtig. So treiben wir die Energiewende – und damit auch
die Sektorenkopplung voran.
Erzeugungs- und Erweiterungsbedarf in deutschen Stromverteilnetzen bis 2045 (Quelle/Datenbasis: ZVEI, BDEW)
Christian Otto
Position: tec.news Redaktionsteam