„Zwei Digital Twins, die sich nicht verstehen, bringen nichts“
Definition
tec.news: Es gibt verschiedene Definitionen eines digitalen Zwillings. Wie definieren Sie das Konzept?
Detlef Tenhagen (DT): Für uns ist der digitale Zwilling ein Modell, das ein Asset – also ein physikalisches Objekt –, einen Prozess oder eine Organisation mit ihren Eigenschaften zeitgerecht wechselseitig abbildet. Die Basis sind international gültige Definitionen von internationalen Standardisierungsgremien wie ISO oder IEC, die konsensbasiert arbeiten. Vor allem der Standard der IEC 63278 zum industriellen digitalen Zwilling ist für uns sehr wichtig.
Wichtigkeit von Standards
Warum sind gerade Standards wichtig?
DT: Sie sorgen für Interoperabilität zwischen vormals proprietären Lösungen und ermöglichen den herstellerübergreifenden Austausch von Produkten, Werkzeugen und Daten. Das ist besonders bedeutend für die Integration von Energie- und Datennetzen, die als Lebensadern unserer modernen Infrastruktur fungieren. Ohne diese Standards wären einheitliche Protokolle unmöglich, was die Effizienz und Transparenz beeinträchtigen würde und Entwicklungen in Richtung Nachhaltigkeit behindern könnte.
Standards sind also eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Interoperabilität. Den digitalen Zwilling betrifft das besonders. Denn zwei Digital Twins, die sich nicht verstehen, bringen nichts.
Nutzen AAS
Und wo kommt die Asset Administration Shell (AAS) ins Spiel?
DT: Sie erfüllt einen bedeutenden Nutzen: Erstens werden alle Produkte durch die AAS real und digital vereint. Zweitens sind sie in der Wertschöpfungskette zeitnah verfügbar. Drittens wird eine nahtlose Kommunikation ermöglicht. Viertens – und das ist sehr wichtig – entsteht eine einzige
Wahrheit über alles, was dieses Produkt in seinem Lebenszyklus betrifft. Das verhindert doppelte Datenhaltung und inkonsistente Systeme.
Das Konzept des Meta Modells bietet eine standardisierte Struktur zur Organisation von Daten und ermöglicht die Integration heterogener Datenquellen. Es dient als Grundlage für Referenzarchitekturen, die dann wiederum die einheitliche Anwendung von Standards gewährleisten.
Wollen wir, dass die Asset Administration Shells beispielsweise von Maschinen kommunizieren, bleibt die Protokollschicht dennoch unberührt. Man kann also Brownfield- Umgebungen genauso verbinden, wie es im Greenfield mit neuen Systemen möglich ist. Denn die Asset Administration Shell setzt sozusagen als Layer auf diesen Protokollen auf, klammert sie und ermöglicht das, was wir seit vielen Jahren für die Industrie 4.0 haben wollen, nämlich die Vernetzung hin zu den sogenannten Cyberphysischen Systemen.
Das Konzept des digitalen Zwillings etabliert sich als zukunftssicheres Modell der Produktentstehung über den gesamten Lebenszyklus. Wir sehen viele Anforderungen auf Unternehmen zukommen, die mit proprietären Lösungen nicht umsetzbar sind. Ein Beispiel ist die Erfassung eines Product Carbon Footprint (PCF) für ein Produkt entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Der digitale Zwilling ermöglicht Automatisierbarkeit, die vorher nicht möglich war. So können wir der Verschwendung ein Ende setzen und den Einfluss auf natürliche Ressourcen messen.
Bedeutung für HARTING
Was bedeutet das für HARTING?
DT: Das bedeutet vor allem Zukunftssicherheit. Denn nun haben wir eine standardisierte Schnittstelle – in der IT, aber auch in den Bereichen Operations und Logistik – für unsere Asset Administration Shells. Sie arbeitet mit Teilmodellen, die wir definieren, basierend auf den Standards von Konsortien, welche die IDTA (Industrial Digital Twin Association) als Template erzeugt hat. Unsere IT muss keine Schnittstellensoftware für die Anwendungssoftware, zum Beispiel für ein PLM-System wie Siemens Teamcenter, das ja momentan bei uns sein Go-live erlebt, diskret programmieren. Das reduziert unsere Kosten auf der IT-Ebene.
Und wo kommen HARTINGs Steckverbinder ins Spiel?
DT: Wir nutzen den digitalen Zwilling im gesamten Lebenszyklus unserer Steckverbinder. Das bedeutet, dass auch im Produktionsprozess die Verwaltungsschale sowohl zur Steuerung der Produktionsschritte genutzt wird als auch der gesamte digitale Zwilling durch die Aggregierung der einzelnen Verwaltungsschalen. Es entsteht so der digitale Produktpass und auch der PCF wird so für den Steckverbinder-Typ bestimmt. Der digitale Zwilling vereinfacht den Entwicklungsprozess unserer Kunden und kann bei Nutzungsende zum Re-Use oder zum Recycling genutzt werden, also Cradle to Cradle.
Hürden
Welche Hürden gilt es für branchenweite Standards zu überwinden?
DT: Es ist entscheidend, dass Stakeholder ihre Interessen nicht singularisieren. Ein gemeinsames Verständnis ist nötig, um inkompatible Standards zu vermeiden. Zudem ist die Entwicklung von konsensualen Standards besonders wichtig, da sie eine rechtliche Relevanz haben und weltweit anerkannt sind. Die enge Zusammenarbeit aller relevanten Akteure im Standardisierungsprozess ist wichtig, um Denkmuster zu vermeiden und breitere Akzeptanz zu gewährleisten.
Können Gremien wie die Industrial Digital Twin Association (IDTA) hierbei helfen?
DT: Ja, die IDTA hat über 90 Templates entwickelt, die konkrete Anwendungen der Standards unterstützen und die Interoperabilität von Systemen fördern. Durch konsortiale Standards, welche auf den rechtsverbindlichen konsensualen Standards basieren, schaffen sie eine Grundlage für die Industrie zur weltweiten Kooperation.
Andreas Huhmann
Position: Strategy Consultant
- Abteilung: C+N Strategie
- Firma: HARTING Stiftung & Co. KG