Klimaschutz und Versorgungssicherheit zusammen angehen

Schritte zu einer klimaneutralen Energieversorgung

tec.news im Gespräch mit Prof. Dr. Dirk Uwe Sauer über Energiesysteme der Zukunft (ESYS)

Den Weg zu einer klimaneutralen Welt zu ebnen, ist eine zentrale Aufgabe unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Trotz der vom Klimawandel stark beeinflussten aktuellen Wetterereignisse wie z. B. der Überschwemmung in Pakistan oder dem viel zu trockenen und heißen Sommer in Mitteleuropa wird aktuell vor allem über die hohen Energiepreise und Gasengpässe als Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gesprochen. Die gute Nachricht ist: Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Wahrung der Versorgungssicherheit müssen kein Widerspruch sein. Denn die Umstellung auf erneuerbare Energien und die Einsparung von Energie helfen, die Abhängigkeiten von russischen Energieträgern zu reduzieren, Energiepreise zu senken und die Versorgungssicherheit langfristig zu sichern. Erneuerbare Energien sind bei Berücksichtigung aktueller CO2-Zertifikatspreise in der Stromerzeugung heute durchweg günstiger als alle fossilen Energieträger.

Die notwendigen Maßnahmen, um die vom Bundesverfassungsgericht eingeforderten und gesetzlich festgeschriebenen Klimaziele zu erreichen, werden nun noch dadurch erschwert, dass das an vielen Stellen als Brücke vorgesehene Erdgas jetzt viel schneller eingespart werden muss als geplant.

Kurzfristige Maßnahmen

Die Sorge vor Engpässen in der Erdgasversorgung in Deutschland und Europa ist groß. Denn die deutschen und europäischen Gasinfrastrukturen sind zu großen Teilen auf Zulieferungen aus Russland ausgerichtet – dies betrifft sowohl die Gasmenge als auch die Gastransportkapazitäten. Hier muss kurzfristig viel geschehen, also binnen weniger Monate bis hin zu einem Jahr. Ein Wegfall russischer Lieferungen würde dazu führen, dass in Hochlastzeiten bis zu rund 25 % des Vorjahresgasbedarfs nicht gedeckt werden könnten. Dies zeigt eine vom Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ in Auftrag gegebene und durch Fraunhofer IEG, Fraunhofer SCAI und TU Berlin durchgeführte Studie.

Um die Versorgungslücke auch in Hochlastzeiten im Falle ausbleibender russischer Lieferungen zu schließen, muss der Verbrauch in Europa kurzfristig um etwa 20 %, mittelfristig um 25 % bezogen auf das Niveau von 2021 sinken. Dies kann zunächst durch (freiwillige) Einsparungen in der Wärmeversorgung, etwa durch eine Absenkung der Raumtemperatur, und in der Industrie gelingen. Wichtig ist auch der zeitlich begrenzte Einsatz anderer Energieträger wie etwa von Kohle in der Strom- und Öl in der Wärmeerzeugung.

Daneben müssen in den kommenden Monaten vor allem die europäischen Gasnetze umgebaut und erweitert werden: Es braucht zusätzliche Terminals für Flüssiggas, um die Zulieferung durch neue Partnerländer zu ermöglichen. Die Flussrichtung des Erdgases in Europa muss hierfür in vielen Fällen umgekehrt werden. Und es braucht höhere Pipelinekapazitäten, insbesondere an den Landesgrenzen (sog. Interkonnektoren). Deutschland wird künftig in hohem Maße auf die Solidarität anderer EU-Mitgliedsstaaten angewiesen sein, aber auch selbst für die Speicherung und den Weitertransport von Erdgas an Nachbarstaaten eine zentrale Rolle einnehmen. Einige teure Investitionen müssen getätigt werden, die zwar mittelfristig aufgrund des zurückgehenden Gasverbrauchs nicht mehr gebraucht werden, aber kurzfristig helfen, den Gasbedarf zu decken.

Energiewende voranbringen

Gleichzeitig muss auf vielen Ebenen ein Systemwandel angestoßen werden, um Klimaneutralität zu erreichen und Versorgungssicherheit zu gewährleisten – auch in mittel- und langfristiger Perspektive. So ist es dringend nötig, Effizienzpotenziale zu heben. Elementar dafür ist vor allem die Sanierung von Gebäuden. Die Sanierungsrate stagniert seit Jahren bei ca. 1 % – nötig wären jedoch mindestens 1,5 %, besser noch 2,0 % in den kommenden Jahrzehnten. Daneben müssen rasch die verwendeten Wärmeerzeuger ausgetauscht und so der Fuel Switch weg von Erdgas und hin zu erneuerbaren Energien erreicht werden, allen voran der Einsatz von grünem Strom in elektrischen Wärmepumpen. Im Mobilitätssektor braucht es die Umstellung auf Elektrofahrzeuge und wasserstoffbasierte Treibstoffe zum Beispiel für Schiffe und Flugzeuge.

Die Neuausrichtung der Industrie ist eine weitere zentrale Aufgabe. Aktuell bedrohen die hohen Energie- und Rohstoffpreise die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Border-Adjustment-Taxes auf europäischer Ebene sollen den Import von Produkten, die mit höheren CO2-Emissionen hergestellt werden, entsprechend verteuern. Die Transformation zu klimaneutralen Produktionsprozessen bedeutet also eine Verringerung der Abhängigkeit von Erdgas und die Dekarbonisierung der Industrie. Beide Maßnahmen können zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Immerhin liegt aber die Industrie mit ca. 181 Millionen Tonnen CO2 im zurückliegenden Jahr knapp unter der im Bundes-Klimaschutzgesetz festgeschriebenen Jahresemissionsmenge, während der Mobilitäts- und der Gebäudesektor die Ziele klar verfehlen.

Wasserstoff und seine Syntheseprodukte (z. B. Methan-Gas, Methanol, Ammoniak, flüssige Kohlenwasserstoffe ähnlich Benzin, Diesel oder Schweröl) werden ein zentraler Baustein des Transformationsprozesses der Industrie sein. Da Industrieanlagen für einen langen Zeitraum angeschafft und selten ausgetauscht werden, ist eine Umstellung auf klimaneutrale Prozesse besonders zeitkritisch. Bei dieser Umstellung könnte die Einführung von CO2-Differenzverträgen (CCfDs) hilfreich sein: Diese Verträge gleichen bei einer Einführung klimafreundlicher Verfahren die Kostendifferenz zu herkömmlichen Verfahren aus. So können sie Investitionssicherheit bieten und die Unternehmen bei der Umstellung unterstützen. Mit einem ähnlichen Instrument, dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), konnte die Einführung erneuerbarer Energien erfolgreich unterstützt werden.

Um einen raschen Hochlauf von Wasserstoff und seinen Syntheseprodukten überhaupt zu ermöglichen, müssen der Aufbau von Elektrolyseuren in Deutschland und Europa incentiviert und geeignete Wasserstoff-Infrastrukturen zum Transport und zur Speicherung des Energieträgers geschaffen werden. Doch Deutschland wird die in Zukunft benötigten Mengen grünen Wasserstoffs voraussichtlich nicht alleine herstellen können. Deshalb gilt es, frühzeitig Importstrukturen mit anderen Ländern aufzubauen – innerhalb sowie außerhalb der EU. Diese neuen Partnerschaften sollten nachhaltig und auf Augenhöhe mit den Zulieferländern gestaltet werden.

Wasserstoff, Energieeinsparungen und die Transformation der Industrie sind notwendige Komponenten, um Klimaneutralität zu erreichen. Doch dabei sollte nicht übersehen werden: Die Basis für eine klimaneutrale Energieversorgung in Deutschland bildet der zügige und massive Ausbau erneuerbarer Energien in Form von Windrädern und Photovoltaik in Deutschland, Europa und der Welt. Ohne sie als Säulen des Energiesystems wird die Wende nicht gelingen.

Erneuerbare Energien sind die Voraussetzungen und die Chance, das energiepolitischen Zieldreieck aus Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit der Energieversorgung in Zukunft bilden zu können.

Auf dem Hochlaufpfad der Erneuerbaren liegen noch große Herausforderungen vor uns, denn es klafft eine signifikante Lücke zwischen der geforderten Ausbauleistung und dem, was tatsächlich an neuen Windrädern und Photovoltaik-Anlagen pro Jahr realisiert wird. Damit die Beschlüsse auf dem Papier zur Realität werden können, müssen auf verschiedenen Ebenen Hürden abgebaut und das Ausbautempo erhöht werden. Das Spektrum der notwendigen Maßnahmen ist breit, z. B.:

  • einheitliche Kriterien für den Naturschutz bei Ausbauprojekten, die die Rechts- und Investitionssicherheit von Erneuerbaren-Projekten weiter stärken
  • Aufstockung personeller Ressourcen und gezielte Weiterbildungen in Ämtern und Behörden, um eine schnellere und rechtssichere Prüfung von Anträgen zu fördern
  • verpflichtende Flächenziele etwa für die Windenergie an Land; Mehrfachnutzungen von Flächen (beispielsweise durch Nutzung von Agri-PV oder Floating-PV aber auch Naturflächen zur Stärkung der Populationen von Wildpflanzen, Insekten, Nagern oder Vögeln)
  • Erschließung aller geeigneten Gebäudedächer
  • Bürger*innen von Beginn an in die Entscheidungsprozesse aber auch die Investitionsmöglichkeiten einbinden und so die Akzeptanz für den geplanten Ausbau aktiv fördern
  • verbesserte Informationsprojekte und finanzielle Beteiligung der Standortkommunen
  • Ausbau der Produktionskapazitäten für PV- und Windkraftanlagen auch in Europa
  • personeller Ausbau in Handwerk und Bauhauptgewerbe

Nicht zuletzt muss die gesamte Energieversorgung an die Erfordernisse der neuen, volatilen Energieträger angepasst werden. Um diese jahres- und tageszeitenabhängigen Strommengen auffangen und regionale Unterschiede ausgleichen zu können, braucht es einen europaweiten Ausbau der Stromnetze, eine Stärkung der Verteilnetze vor allem für den Wärmepumpenstrom, einen Ausbau der Energiespeicher, die die schwankende Erzeugung erneuerbarer Energien auf die Verbrauchszyklen abstimmen, eine viel stärkere Digitalisierung und intelligente Steuerung aller beteiligten Komponenten und Lösungen, den Verbrauch flexibel anpassen zu können. 

Ein Beispiel ist die Nutzung von Batterien in Elektrofahrzeugen, deren Kapazität in Deutschland bereits Ende 2021 der Gesamtkapazität aller deutschen Pumpspeicherkraftwerke entsprochen hat.

Der Blick nach vorn

Die in diesem Beitrag skizzierten kurz- und langfristigen Maßnahmen sind notwendig, um die Versorgungssicherheit weiterhin auf dem hohen Niveau halten zu können, das für den Industriestandort Deutschland entscheidend ist, und gleichzeitig die Klimaziele erreichen zu können. Zusammen mit weiteren Maßnahmen in den Bereichen Verkehr, Landwirtschaft und Digitalisierung kann es gelingen, Europa bis zur Mitte des Jahrhunderts zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Die Menge an Aufgaben, um dieses Ziel zu schaffen, ist gewaltig. Doch das darf uns nicht davon abhalten, nun mit großen und mutigen Schritten voranzugehen. Es wird nicht-optimale Entscheidungen geben, aber abwarten wird viel größere wirtschaftliche und ökologische Schäden verursachen.

 

Prof. Dr. Dirk Uwe Sauer