„Elektrifizierung ist das effizienteste Mittel“

Interview mit
Dr. Lars Müller, Member of the Board of Rail Campus OWL e.V. and Head of Business Line Testing Services DB Systemtechnik GmbH
Interview mit
Dr. Daniel Nordsiek, Director Innovation Hub in Minden

Die Zukunft ist digital, klimaneutral und elektrisch! Unser Leitbild ist das der All Electric Society (AES). Wie die AES die Bahnindustrie betrifft, fragt Dr. Daniel Nordsiek, Director Innovation Hub in Minden, Dr. Lars Müller, Vorstand Rail Campus OWL e.V. und Leiter Business Line Prüfdienstleistungen DB Systemtechnik GmbH.

 


 

Die All Electric Society beschreibt die Vision einer CO2-neutralen und nachhaltigen Welt, deren Energieversorgung im Wesentlichen auf regenerativen Quellen basiert. Spielt die AES für die Bahn eine Rolle?

Die All Electric Society ist für uns nichts Neues. Die Bahn setzt seit langer Zeit auf eine flächendeckende Elektrifizierung. Wir fahren seit bald 150 Jahren elektrisch, heutzutage finden ca. 2/3 der Fahrten mit nachhaltigem Strom statt. Nur die elektrische Bahn ist schnell, transportiert schwere Güter und ermöglicht Flexibilität, deshalb sind leistungsfähige modernisierte Strecken im Allgemeinen elektrifiziert.
 


 

Aber die Stromquelle ist ein Thema?

Ich bin überzeugt davon, dass das Ziel ausreichend Energie aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen, realistisch ist. Viele unserer Züge fahren bereits heute CO2-neutral – also mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen. Aber diese Stromquelle ist nicht immer verfügbar – ich muss ihn also speichern. Das Problem ist demnach nicht, wie ich den Strom erzeuge, sondern wie ich ihn speichere.


 

Zu welchem Anteil ist die Deutsche Bahn denn heute schon elektrisch?

Aktuell sind 61 Prozent des Schienennetzes elektrifiziert, aber bereits 90 Prozent aller Zug-Kilometer werden elektrisch zurückgelegt. Das ist schon einmal ein großer Anteil. Konkret sind es im Personenfernverkehr 99 Prozent, im Güterverkehr 97 Prozent und im Nahverkehr immerhin noch 81 Prozent.*


 

Das sind die Zahlen für Deutschland?

Ja. Jenseits der Grenzen sieht es anders aus, weil das Stromnetz in Europa uneinheitlich ist. Nahezu jedes Land hat eigene Spannungen im Schienenverkehrsbereich. Und deshalb ist bei den Schienengrenzübergängen nur ungefähr die Hälfte mit einer Oberleitung ausgestattet. Innerhalb von Europa ist Deutschland bei der Streckenelektrifizierung prozentual im Mittelfeld angesiedelt, da liegen wir beispielsweise vor Frankreich, aber hinter Österreich. Allerdings sind wir ein riesiger Player: Betrachtet man die elektrifizierten Streckenkilometer, sieht es also schon wieder anders aus, dann sind wir in Europa führend und weltweit die Nummer fünf.**


 

Welche Strategien gibt es in Deutschland für den weiteren Ausbau? Setzt man auf das reine Elektrifizieren aller Strecken, oder gibt es mehrere Ansatzpunkte?

Fangen wir mit dem Streckenneubau an: Da ist die Elektrifizierung klar gesetzt. Allerdings entstehen nicht so viele neue Strecken. Folglich ist der Ausbau die wesentliche Triebfeder, also die Elektrifizierung im Nachhinein. Dafür haben wir Programme aufgelegt: Ziel ist es, dass bis zum Jahr 2030 75 Prozent der Strecken elektrifiziert sind. Nachlegen wollen wir vor allem beim Nahverkehr, beim Güter- und Werksverkehr sowie bei den Hafenbahnen. Beim Fernverkehr sind wir schon im Soll.


 

Welche Herausforderungen gibt es beim Umgang mit Bahnstrom?

Der Bahnstrom wird mit Wechselstrom betrieben und hat eine Fahrdrahtspannung von 15 kV und eine Frequenz von 16,7 Hertz. Und damit kommen wir zu einer Herausforderung, die die All Electric Society und uns betrifft: das Speichern. Wir müssen mit den sogenannten Dunkelflauten jenseits der Sommermonate klarkommen: Windenergie- und Photovoltaikanlagen liefern dann wegen Flaute oder Schwachwind und zugleich auftretender Dunkelheit keine oder nur geringe Mengen elektrischer Energie. Diese Thema betrifft aber nicht nur die Eisenbahn, dies ist ein gesellschaftspolitisches Thema, das wir nur in einem gemeinsamen Kraftakt von Politik, Wirtschaft und Forschung lösen werden.


 

Die Batteriespeichertechnik wäre eine lokale Lösung für Strecken, die nicht elektrifiziert sind. Es gibt doch Batterie-Lokomotiven?

Ja. Sie haben konventionellen Strom gespeichert. Der wird dann abgefahren und wieder aufgeladen. Anders als in Privathaushalten kann man aber nicht in den Zeitspannen speichern, in denen es einen Überschuss an CO2-neutral erzeugtem Strom gibt, dafür ist der Strombedarf zu hoch. Wir haben keine Wahl: Wir müssen laden, fahren, laden, fahren.


 

Spielen Digitalisierung und ein höherer Automatisierungsgrad auch bei der Bahn eine Rolle, um effizienter fahren zu können und dadurch den Energieverbrauch zu verringern?

Das Pendant zum energieeffizienten Fahren, wie man es aus dem Auto kennt und dort als „One Pedal Driving“ bezeichnet, wäre beim Zug das Rollenlassen, ohne Bremsenergie zu nutzen, da selbst das Rückspeisen verlustbehaftet ist. Das ginge aber möglicherweise zulasten der Pünktlichkeit. Die Aufgabe besteht darin, bei einer Zugfahrt mögliche Zeitreserven zu nutzen, um auszurollen. Bevor der Zug also im Bahnhof hält, wird er nicht abgebremst, sondern man lässt ihn ausrollen. Noch effizienter wäre es, wenn während der Fahrt die so genannte Fahrzeitreserve kontinuierlich bekannt wäre und dann die Geschwindigkeit des Zuges abgesenkt wird. Das würde zusätzliche Energie einsparen!


 

Welche Hebel bietet der automatische Zugbetrieb bzw. Automatic Train Operation, kurz ATO?

Das automatische Fahren hat klare Vorteile: Statt ausrollen zu lassen, kann ich die Geschwindigkeit früher nach unten setzen und dadurch noch effizienter werden. Wir haben momentan in Hamburg mit der digitalen S-Bahn ein Projekt, das energiesparendes Fahren im Fokus hat. Ein anderer Effekt von ATO ist Pünktlichkeit: Indem man den Faktor Mensch herausnimmt, wird man erheblich zuverlässiger. Zuverlässigkeit bedeutet auch einer Verbesserung der Planbarkeit von energieoptimierten Fahrten, nur so können wir vorrausschauend langsamer und pünktlicher fahren. Effizienz und Pünktlichkeit sind somit keine konkurrierenden Ziele – sie können sich gegenseitig durch ATO verstärken!


 

Was sind beim Thema Energie momentan die großen Herausforderungen?

Für mich ist die größte Herausforderung, weg von den fossilen Brennstoffen zu kommen und die Verfügbarkeit durch langfristige Speichermöglichkeiten abzusichern. Das wäre der Weg hin zur All Electric Society. Innerhalb des elektrischen Systems zu optimieren, ist derzeit weniger sinnvoll. Dort sind die Schrauben zu klein. Energieerzeugung und Abkehr von den fossilen Quellen – so lauten die großen Themen. Alternative Kraftstoffe, die mit CO2-neutraler Energie erzeugt werden, sind eine Option, um Diesel zu ersetzen. Die Streckenelektrifizierung ist das effizienteste Mittel von allen. Dafür braucht man aber wie immer Geld. Und man benötigt Programme, denn dafür müssen über längere Zeit Strecken gesperrt werden.


 

Was erwarten Sie dazu von HARTING?  

HARTING ist, genau wie die DB Systemtechnik GmbH, Gründungsmitglied des RailCampus OWL in Minden und forscht im Rahmen des Deutschen Forschungszentrums für Mobilität der Zukunft an innovativer Verbindungstechnik für die Bahn. Die DB Systemtechnik erprobt diese neuen Technologien und hilft den Herstellern diese kontinuierlich zu verbessern.  Ich denke also, die Weichen sind aus Partnerschaft gestellt und freue mich auf die weiterhin sehr gute Zusammenarbeit.


 

tec.news: Herr Müller, wir danken für das Gespräch.


Quellen:

*https://www.allianz-pro-schiene.de/themen/infrastruktur/elektrifizierung-bahn/

**https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Eisenbahnnetz