„Vier Roadmaps müssen ineinandergreifen, um nachhaltige Produkte zu erzeugen“

Interview mit
Dr. Kurt D. Bettenhausen, Board Member New Technologies & Development, HARTING Technology Group

tec.news: Welche Aspekte umfasst die Umweltstrategie von HARTING? Und seit wann wird sie gelebt?

K. D. Bettenhausen: Seit dem Anfang der 1990er Jahre und damit seit über 30 Jahren ist eine Umweltstrategie bei HARTING verankert und seitdem auch gelebte Anforderung durch unsere Gesellschafter. Wir richten unser gesamtes Handeln auf Nachhaltigkeit aus und lassen keinerlei Verschwendung zu. Das ist am Ende des Tages genau die Nachhaltigkeit, die wir beim Einsatz von Rohstoffen und verwendeten Materialien sehen. 


 

tec.news: Wie beeinflusst Nachhaltigkeit die Prozesse bei HARTING?

K. D. Bettenhausen: Als erstes versuchen wir, unsere Prozesse in Gänze – also vom Kunden bis zum Kunden – so schlank zu gestalten, dass auf diesem Weg jegliche Verschwendung vermieden wird.  Darüber hinaus gibt es dann innerhalb der einzelnen Prozessschritte Rahmenbedingungen, die einzuhalten sind – beispielsweise bei der Auswahl von Materialien, bei der Auswahl von Standards. Das Denken und Handeln im Sinne des Product Carbon Footprint (PCF) umfasst die Überlegung, alternative Energieträger einzusetzen, Materialien immer wieder darauf zu überprüfen, wie sie verarbeitet werden können und grundsätzlich Ansatzmöglichkeiten zu finden, um präzise auf die Wertschöpfungskette einzuwirken– und zwar auch außerhalb des eigenen Unternehmens, vor- und nachgelagert. Diese Konkretisierung ist einerseits eine Mammutaufgabe, andererseits aber eben auch notwendig, um genau die Stellen zu identifizieren, in denen es unter Umständen noch verdeckte Potentiale gibt. Das konkrete Aufarbeiten führt dazu, diese verdeckten Potentiale zu heben.


 

tec.news: Wie sehen Sie das Zusammenspiel von Product Carbon Footprint und Corporate Carbon Footprint?

K. D. Bettenhausen: Das Herunterbrechen bis auf die Produktebene (PCF) ist die natürliche Weiterentwicklung dessen, was wir von uns aus im Hinblick auf den Corporate Carbon Footprint ohnehin schon getan haben. Sicherlich auch deswegen, weil sich die Anforderung seitens der Märkte verändert haben – auch wenn dies weltweit gesehen immer noch unterschiedlich ausgeprägt ist und Vieles vom Entwicklungsstand der jeweiligen Regionen bzw. internationaler politischer Abkommen abhängig ist. Es ergibt einfach Sinn, von Kunde bis Kunde zu denken und diesen Schritt mit einem möglichst minimalen Footprint zu versehen. Und das geht nur über die Detaillierung bis auf die Produktebene.


 

tec.news: Wie beeinflusst Nachhaltigkeit die unterschiedlichen Roadmaps?

K. D. Bettenhausen: Grundsätzlich arbeiten wir bei HARTING mit sieben miteinander vernetzten Roadmaps. Die wichtigsten, die wir hier betrachten, sind Produkte (marktgetrieben), Innovation (technologiegetrieben), Produkttechnologie in der Umsetzung und die Produktionstechnologie. Diese vier Roadmaps müssen ineinandergreifen, um nachhaltige Produkte möglichst effizient zu erzeugen und weiterzuentwickeln. Dies tun wir seit mehr als 65 Jahren, seit der Geburtsstunde unserer Han® Steckverbinder. Dieses Beispiel zeigt: Nachhaltigkeit äußert sich auch dann, wenn sich ein hochwertiges Produkt auf dem Markt durch sehr lange Standzeiten auszeichnet, nicht ausgetauscht und weggeworfen werden muss und auch unter widrigsten Bedingungen funktioniert.

Wir bei HARTING setzen bei vielen unserer Materialien auf Standardmaterialien und arbeiten bewusst nicht mit verschiedenen Materialkombinationen, bei denen die Folgen nicht sauber abgeschätzt werden können. Neue Designmethoden gehen bei uns automatisch mit Strukturoptimierungen für Nachfolgeproduktgenerationen einher. Das bedeutet: wir schauen uns genau an, wie wir zum Beispiel mittels 3D-Druck andere Topologien der jeweiligen Gehäuse entwickeln. Wir untersuchen, in welcher Weise ein Leichtbau-Steckverbinder auch gleichzeitig einen niedrigeren PCF einer Anlage verursacht, in der er verbaut ist.

Mit intelligenten Steckverbindern, die wir bereits an anderer Stelle vorgestellt haben, arbeiten wir daran, sowohl Daten und Signale messen zu können als auch Umwelteinflüsse zu registrieren. Wir verfolgen das Ziel, eine Zustandsbestimmung innerhalb des Produktlebenszyklus treffen zu können. Aus folgendem Grund: Wartungsarbeiten und der Austausch von Produkten werden nach festen Zyklen vorgenommen, weil unsere Produkte für anspruchsvolle Anwendungen hohen Umweltbelastungen ausgesetzt sind – Schock, Vibration, Temperatur, Feuchtigkeit in den unterschiedlichen klimatischen Regionen der Welt im Außenbereich. Sind wir in der Lage, Zustandsinformationen mitzuliefern und festzustellen, dass auch nach einem Wartungszyklus das Produkt immer noch gut und richtig im Einsatz ist, gelingt uns ein weiterer wichtiger Beitrag im Sinne der Nachhaltigkeit: unsere Produkte bleiben länger im Feld und sind damit nachhaltiger.

Schließlich setzen wir auch auf die grundsätzliche Erprobung neuer Materialien, wie z.B. mineralölfreie Kunststoffe, um so genannte „grüne Produktlinien“ auf den Weg zu bringen. Eine alternative Produktion ohne Mineralöle und auf Grundlage natürlich nachwachsender Rohstoffe steht jedoch vor einer großen Herausforderung. Unsere Produkte sind in einem regulierten Umfeld im Einsatz. Das bedeutet gleichzeitig: wir müssen sicherstellen, dass wir mit einem „grünen“ Austauschprodukt nach wie vor alle Anforderungen jeglicher Zertifizierungen und Tests erfüllen. Das betrifft sowohl die metallische als auch die Kunststoffseite der Materialien. Hier sind wir in entsprechenden nationalen und internationalen Forschungsprojekten unterwegs.


 

tec.news: Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht der Digital Twin zur Ermittlung eines Cradle-to- Grave-PCF?

K. D. Bettenhausen:  Jegliche Informationen, die wir für uns – aber auch für unsere Kunden und Partner – brauchen, können wir nur dann vernünftig bereitstellen und kontinuierlich aktualisieren, wenn wir in der Lage sind, das Ganze von Anfang bis Ende digital zu begleiten. Das heißt: beginnend vom Entwurfsprozess in der Entwicklung bis hin zum Einsatz im Feld. Dies gelingt uns nur mit der Unterstützung Digitaler Zwillinge. Dabei unterscheiden wir – bezogen auf HARTING – drei wesentliche Merkmale: Wir sind Nutzer von Digitalen Zwillingen, wir sind Ersteller und Bereitsteller von Digitalen Zwillingen* und wir sind Enabler von Digitalen Zwillingen, indem wir es anderen ermöglichen, ihre Digital Twins mithilfe unserer Produkte up-to-date zu halten.

Um dies erfüllen zu können, ist zunächst einmal eine konsortiale, nachfolgend dann die konsensuale internationale Standardisierung notwendig. Die Asset Administration Shell (AAS) bietet dabei den Rahmen für uns und dient als Grundlage einer neutralen Plattform, die von anderen ebenfalls genutzt werden kann. Für uns bedeutet das: wir stellen Produktinformationen bereit, die über geometrische Einbaumaße weit hinausgehen. Das gestalten wir aktiv mit und treiben das Thema voran durch aktive Mitwirkung in den entsprechenden Gremien. Die AAS ist dabei die überlagerte Klammer. Mit ihr wird der Digitale Produktpass Einzug halten und die ideale Möglichkeit bieten, den PCF zu transportieren. 

 *HARTING hat auf der HANNOVER MESSE 2023 insgesamt 18.800 Produkte im Rahmen einer Asset Administration Shell zur Verfügung gestellt.


 

tec.news: Wie ermitteln Sie den Product Carbon Footprint?

Dr. Kurt D. Bettenhausen: Heute ist es allgemein üblich, den PCF auf der Grundlage von Berechnungen bereitzustellen. Wir wissen, welche Materialien wir einsetzen, mit welchen grundsätzlichen Werten sie geliefert werden und wie unsere Verarbeitungsschritte im Sinne der Produktion aussehen – Stichwort: inbound logistics, outbound logistics. Auf diese Weise können wir vernünftige Informationen ausgeben. Das kurz- bis mittelfristige Ziel muss sein, die Angaben tatsächlich auf der Grundlage einer chargenbasierten Ist-Ermittlung bereitstellen zu können. Das bedeutet jedoch: es ist ein erheblicher Unterschied, ob ich das gleiche Produkt entweder über Nacht mit Ökostrom erzeugt habe, oder einen Strom-Mix nutze, der international zur Verfügung steht. Oder wurde etwa zur Mittagszeit bei höchster Sonneneinstrahlung ein selbsterzeugter Solarstrom verwendet? Die Industrie, die in dieser Thematik zwar völlig anderen Rahmenbedingungen aufweist, jedoch schon sehr weit ist, ist die Stahl-Industrie. Sie kann heute schon zu großen Teilen Aussagen treffen, welches Stahlblech aus welcher Charge konkret welchen PCF beinhaltet. Das heißt: nicht als Stahlblech an sich, sondern tatsächlich chargenspezifisch ermittelt. Dies ist bei einem einfachen Blech natürlich etwas anderes, als bei einer Vielzahl an kombinierten Produkten, bei denen die Einzelkomponenten ebenfalls eine gewisse Komplexität aufweisen. Aber die Reise geht ganz klar dahin, und das ist auch konkret unsere Absichtserklärung: Wir wollen und werden den PCF so schnell wie möglich und machbar bereitstellen. 


Wir als Technologiegruppe stellen den Cradle-to-Gate-PCF zur Verfügung, der quasi an unserer Tür endet, wenn wir ihn zum Kunden liefern. Die AAS erlaubt, dass der PCF im Produktlebenszyklus durch den Anwender erweiterbar ist, der wiederum im gleichen, interoperablen Tool den PCF weiter fortschreiben kann – bis hin zum Zeitpunkt der Entsorgung des Produkts: Cradle to Grave. Genau hier liegt der Vorteil des Digital Twins.