Herausforderungen der Digitalisierung für die produzierende Industrie

Interview mit
Direktorin des Institutsclusters IMA/ZLW & IfU RWTH Aachen

Wie lassen sich Digitalisierung und Industrie 4.0 aus akademischer Perspektive voneinander abgrenzen? Wie lauten mögliche Gründe, warum die Informations- und Kommunikationstechnik noch nicht bis zur Automatisierung vorgedrungen ist? tec.News ist mit diesen Fragestellungen an Frau Prof. Dr. Sabina Jeschke herangetreten, Direktorin des Institutsclusters IMA/ZLW & IfU an der Rheinisch-Westfälischen Technologischen Hochschule in Aachen und im Wissenschaftsjahr 2014 von der Gesellschaft für Informatik GI ausgezeichneter „digitaler Kopf Deutschlands“.

Was bedeutet für Sie Digitalisierung und Industrie 4.0? Wie grenzen sich beide Begriffe gegeneinander ab?

Prof. Dr. S. Jeschke: Prinzipiell ist Digitalisierung der konkretere bzw. technologischere Begriff. Unter Digitalisierung ist eine Abbildung von vorhandenem Wissen zu verstehen, mit der Tendenz, sie zu vervielfältigen und anderen Quellen zugänglich zu machen. Die Industrie 4.0 hingegen adressiert eine vierte industrielle Revolution. Diese ist gerade durch eine umfassende Digitalisierung aller Bereiche gekennzeichnet, insbesondere der industriellen Produktion – Digitalisierung ist also Treiber der Revolution. Das Faszinierende an dieser vierten industriellen Revolution sind autonome, technologische, künstliche Intelligenzen bzw. Gruppen intelligenter, kooperierender Systeme. Wesentliche Prozesse werden ins Internet verlagert und damit „in Echtzeit“ überall verfügbar, wodurch Digitalisierung eine ganz neue Qualität erhält. Nicht mehr einzelne Systeme werden intelligenter, sondern die kompletten Prozesse ändern sich. Für den Kunden bedeutet dies z.B., dass er vielfach direkt mit dem Endproduzenten oder sogar mit dem Produkt kommunizieren wird, und Zwischenebenen entfallen. Darüber hinaus trägt jeder Informationen bei und kann sie nutzen, wie etwa in der „quantified self“ Bewegung – Digitalisierung ist ein Phänomen der Informationsgenerierung, der Informationsverbreitung und der Kommunikationsstrategien.

Wie sehen Sie die Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) für die produzierende Industrie?

Prof. Dr. S. Jeschke: Die IKT erlaubt mir heute, in einer ganz anderen Weise als früher herauszufinden, was mein Kunde möchte. Marktanalysen geschehen über Big-Data-Verfahren: Welche Leute besuchen bestimmte Webseiten und treffen dabei – möglicherweise auch in Digitalisierung ist also Treiber der Revolution. anderen Kontexten – bewusste Kaufentscheidungen? Die Persönlichkeit eines Menschen lässt sich besser erfassen. Daraus kann ein Unternehmen ableiten, welche Produkte es – wann, wo und in welcher Menge – herstellen sollte. Die unmittelbare Wirkung des Kunden beeinflusst Produktion und Produktdesign gleichermaßen. Dort, wo eine solche Einflussnahme stattfindet, wird sich Industrie 4.0 durchsetzen. Die bestehende Automatisierung ist weit fortgeschritten, aber dennoch findet keine kommunikationstechnische Durchgängigkeit bis an die entscheidenden wertschöpfenden Prozesse statt. Aktuell sind es eher einzelne Insellösungen, als dass Strukturen über die Unternehmensgrenzen hinausgehen. Bei der Nutzung der IKT besteht natürlich die Gefahr, dass die Automatisierung sich auf eine Insel zurückzieht, sich quasi abkapselt, um innerhalb ihres Subnetzes weiterhin proprietäre IKT zu nutzen. Eine solche Tendenz halte ich für falsch. Der wirkliche Leistungssprung liegt gerade in der Integration aller, auch „grauer“ Information aus multiplen, heterogenen Quellen, nicht nur aus denen in einem geschützten, virtuell umzäunten Gebiet. Ein „Beinahe-Synonym“ von Industrie 4.0 ist „Internet of Things“ – genau, und zwar „aller Things“. Ich sehe das Internet in seiner jetzigen Form – und zukünftig möglicherweise eine Weiterentwicklung davon – als die gemeinsame Protokollebene, auf der es gilt, eine einheitliche, universelle IKT einzusetzen.

Welche Rolle spielt Open Source für die Automatisierung? Wie sehen Sie die Zukunft und Innovation offener Modelle?

Prof. Dr. S. Jeschke: Meiner Ansicht nach verschiebt sich die Frage von Eigentum und intellectual property massiv. Durch den Ansatz der Open Innovation entwickeln wir alles miteinander, und für die Innovationsfähigkeit der Unternehmen_– inhaltlich wie auch im Aufbrechen verkrusteter Strukturen – birgt dieser Ansatz große Chancen. Mit ihm allerdings stellen sich neue Fragen – wie funktioniert Vertrauen in Strukturen mit ständig neuen Playern, wem gehören Ergebnisse, inwieweit dürfen sie vom externen Erfinder in anderen Kontexten weiterverwendet werden usw. Gleichzeitig dazu finden Innovationen inzwischen in so schnellen Zyklen statt, dass kaum noch Zeit bleibt, sein geistiges Eigentum zu schützen. Ich denke, dass diese geschlossenen, auf intellectual property basierenden Konzepte sich nicht mehr halten lassen. Denn wie lange können proprietäre Modelle bestehen, wenn sie in einem Open Innovation Cycle nicht in der Lage sind, sich schnell weiterzuentwickeln? Und welchen Sinn hat der große Aufwand des Schützens von IP in Patenten, wenn dieses von einer Nachfolgeinnovation noch überholt wird bevor die Unterschrift darunter getrocknet ist? Wäre es nicht viel sinnvoller, diesen Aufwand in weitere Innovation zu stecken – statt in den Schutz der alten?